Blick in den Spiegel

Leseprobe 3. Kapitel

Lange war sie nicht mehr geblieben. Etliche Männer waren noch auf sie zugekommen und meinten, sie sei „das Beste des Abends“ gewesen. Es schmeichelte ihr, aber es war ihr auch peinlich. Sie war randvoll von allem und konnte nichts mehr aufnehmen.

Nun lag sie auf ihrem Bett und starrte an die Decke.

Was war geschehen?

Sie konnte es noch niemandem erzählen. Die Eindrücke waren zu frisch und unklar.

Sie erinnerte sich:

Als sie sich aufsetzte, um ihre Kleider aufzusammeln, hatte sie dicht hinter sich eine Kameralinse erblickt, diese musste von einem versteckten Winkel aus alles aufgenommen haben. Der Mann war schnell verschwunden, er musste ganz nah an ihrem Gesicht gewesen sein. Großaufnahmen in voller Aktion … Oh, nein! War der privat gewesen – oder von einem Sender? Im Saal waren noch mehr Kameraleute unterwegs, was Esperanza erst jetzt so langsam registrierte. Warum hatte sie es nicht vorher bemerkt? War sie so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie gar nichts mehr wahrnehmen konnte? Es war nun mal so, und nicht mehr zu ändern. Sie konnte nur hoffen, dass sie sich demnächst nicht selbst in irgendeinem Sex-Journal im TV wieder fand und morgens beim Brötchenkauf „rote Ohren“ bekam.

Ihr fiel wieder der Engel ein – wie war noch sein Name? Raphael …

So hieß doch ein Engel in der Bibel, oder? War er nicht einer der Erzengel? Was das wohl zu bedeuten hatte? Letzte Nacht hatte sie kaum geschlafen. Wilde Träume, die ihrer Erinnerung entglitten waren, hatten sie sich hin und her wälzen lassen.

Und dann am Arbeitsplatz …

Immer wieder saß sie einfach nur da und ihr gingen Szenen des Abends durch den Kopf, sie malte sich alles noch mehr aus. Dass eine erfüllte Fantasie solch eine Flut von neuen, noch wilderen auslösen konnte, hatte sie nicht erwartet. Des Öfteren geschah es, dass eine Kollegin sie ansprach:

„Esperanza, ich rede mit dir!“

Dann schreckte sie auf und lächelte ertappt in sich hinein: Wenn die wüsste …

Esperanza schloss die Augen und spürte ihren Körper, das Verlangen wuchs, sie wollte mehr! Wo war dieser Zettel – sollte sie ihn anrufen?

Sie stand schnell auf und ging zur Garderobe – wo war ihre Handtasche? Hastig ging sie alle Ecken durch, in welche sie diese gelegt haben könnte. Mist! Gerade jetzt, wo war dieses blöde Ding schon wieder? Sie wurde ungeduldig, immer musste sie alles verlegen, sie war schon eine kleine Schlampe … Dass sie auch nie Ordnung halten konnte. Schon ihr Vater hatte sie oftmals gezüchtigt, weil sie in ihrem Zimmer ein heilloses Durcheinander hinterlassen hatte. Das war immer furchtbar gewesen, wenn sie vom Spielen zum Abendessen nach Hause kam, und der Vater war schon früher als gewöhnlich von der Arbeit zurück. Jedes Mal begann dann eine grausame Inszenierung, wenn sie zur Tür hereinkam, und seine Schuhe bemerkte, die ordentlich unter dem Garderobenspiegel standen. Siedend heiß meldete sich ein Schuldgefühl: Was hast du wieder falsch gemacht?

Da hörte sie es schon:

„Esperanza! Komm her!“

Zögernd ging sie dann in Richtung Wohnküche, sie hätte umkehren wollen, raus, weglaufen, weit weg! Aber sie musste, musste hingehen. Dann stand er vor ihr, der befehlende Ton:

„Hast du dein Zimmer aufgeräumt?“

Der angstvolle Blick in ihren Augen war Antwort genug. Er griff ihr in die Haare und zog sie hinter sich her bis zur Kinderzimmertür, stieß sie auf, und das Spiel begann! „Was habe ich dir gestern noch gesagt, du kleine Schlampe? Jetzt reicht’s, Hose runter!“

Sie hätte sterben mögen.

„Nein, nein, bitte nicht Papa – ich räume schon auf, ich mach auch ganz schnell.“

Aber alles Flehen half nichts.

„Hol den Kochlöffel!“ kam es drohend.

Sie weinte und wand sich. Nein, sie wollte das Folterinstrument nicht holen, nicht das, sie wollte ja alles tun um es wieder gut zu machen, nur das nicht!

„Holst du jetzt den Kochlöffel?“ drang die kalte unbarmherzige Stimme an ihr Ohr. Sie wagte es nicht ihn anzusehen. Mit gesenktem Kopf setzte sie einen Fuß vor den anderen, als ob sie auf glühenden Kohlen ginge. Der Griff an die Schublade kostete ihr jedes Mal eine Überwindung, die ihr Herz einschnürte, sie kniff die Pobacken zusammen, zögernd ging die Hand nach vorn – du musst ihn rausholen, schnell, dann hast du es hinter dir …

Tränen quollen ihr aus den Augen, als sie ihrem Vater den großen hölzernen Kochlöffel reichte.

„Bück dich! Streck den Hintern raus, du kleines Biest!“

Der erste Schlag sauste nieder, auf ihren kleinen, zarten Kinderpopo. Reflexartig gingen ihre Hände nach hinten, sie wollte sich schützen.

„Hände weg! Nimmst du jetzt die Hände weg!“

Sie heulte laut auf, aber sie gehorchte, denn sonst würde es noch schlimmer werden.

Esperanza stand vor ihrem Garderobenspiegel, und blickte in ihr Gesicht, wie schmachvoll war dieses Erlebnis immer wieder gewesen. Tränen rannen ihr über die Wangen.

„Dieser Scheißkerl!“

Er hatte dieses grausame Ritual immer wieder abgehalten, auch als sie schon größer wurde. Irgendwann war sie dann wirklich davongelaufen, hatte sich einfach in die andere Richtung gedreht und war losgerannt, zur Tür hinaus, immer weiter. Doch jedes Mal stand sie wieder vor ihm, so wie jetzt, sie konnte ihm nicht entfliehen.

Die Handtasche – wo war die Handtasche? Hatte sie die ganze Zeit über auf der Ablage gelegen? Warum hatte sie das dumme Teil nicht gesehen? Hastig machte Esperanza sie auf, da war der Zettel. Ich werde ihn anrufen, sofort.

Raphael saß an einem Schreibtisch, seinen Blick ins Leere gerichtet. Sie sollte sich melden, bald. Er hatte noch viel mit ihr vor. Sie war schön, nicht nur ihr Körper war wohlgeformt, ihr Gesicht hatte klassische Züge, und diese Augen, so dunkel, wie warmer, weicher Samt. Dann ihr Lächeln, so frei und unbefleckt, wie hatte sie sich das erhalten können? Er war sich darüber im Klaren, dass sie schon viel erlebt haben musste, um diesen Schritt gehen zu können. Es erforderte Mut und Willenskraft so weit zu gehen, das wusste er nur zu gut. Er wollte diesen halb geschliffenen Diamanten veredeln, aufpolieren, er sollte glitzern und strahlen, und alle verzaubern, die in seine Nähe kamen. Dieses Kleinod gefunden zu haben, war ein großes Glück für ihn, er brauchte neues Material, und dieses hier war hochkarätig.

Das Telefon schrillte.

Er nahm sich in Ruhe eine Zigarette aus der Box, zündete sie an, inhalierte genüsslich, und hob dann ab.

„Ja.“

„Entschuldigung, ich hätte gerne Raphael gesprochen“, hauchte es aus der Muschel. Es war eine tiefe, klangvolle Stimme, die sofort in seine Lenden drang.

„Am Apparat. Wer ist denn da?“ entgegnete er, obwohl er genau wusste, wer sich hinter der lasziven Stimme verbarg.

„Esperanza“, floss es wieder zwischen seine Beine. Er stand ihm sofort, und die Vorstellung, den Mund, der gerade diesen Namen ausgesprochen hatte um seinen Phallus geschlossen zu spüren, ließ ihn noch stärker anschwellen.

„Was machst Du gerade?“

„Ich? Nichts, ich liege auf dem Sofa …“

„Dann zieh dein Höschen aus.“

Ihr Atem ging schwerer.

„Lass die Finger da weg.“

„Ich mach doch gar nichts!“

„Sehr brav, meine kleine Prinzessin, und jetzt spreize deine Beine, soweit wie du kannst, und leg deine Fußsohlen aneinander.“

Esperanza atmete stärker, ihr war es, als ob ein Luftzug ihre Scham streichelte, die kalte Luft legte sich auf ihren Lustjuwel, das erregte sie so sehr, dass ein leises Stöhnen über ihre Lippen drang.

„Gut so. Wie fühlst du dich?“

„Wunderbar.“

„Und – woran liegt das?“

„Ich weiß nicht, vielleicht daran, dass du es bist?“

„Das wollte ich hören. Was machst du heute Abend?“

„Ich wollte ins Kino gehen, mit einer Freundin …“

„Sag ihr ab, du kommst zu mir, ich hab ein Geschenk für dich.“

„Wann?“

„Jetzt gleich! Zieh deine Stiefel an. Was trägst du gerade?“

„Ein Kleid.“

„Zieh es aus, leg nur einen Mantel über und mach dich auf den Weg.“

Sie schritt durch die Strassen, den gelben Wollmantel mit einem Gürtel fest um ihren Leib geschlossen. Es war ein trüber regnerischer Abend und leichte Regentropfen wurden von den Straßenlaternen milchig reflektiert. Tack-tack-tack, klackten ihre Schritte auf dem glänzenden Asphalt. Sie fühlte, wie ihr vor Erwartung der Saft in die Ritze floss. So etwas hatte sie noch nie getan. Sie spürte ihre Oberschenkel intensiver als sonst. Bei jedem Schritt rieben die Schamlippen aneinander, ihr Herz klopfte lauter, es pochte in ihren Schläfen. Sie hatte das Gefühl jeder könne sehen was mit ihr los war. Sie blickte verschämt zu Boden, doch dann hob sie trotzig den Kopf. Und wenn schon, sie wussten es ja doch nicht. Niemand wusste es. Nur sie und er, und es war geil! Ein stolzes Lächeln umspielte ihre Lippen, sie würde es ausprobieren, sie wollte es wissen, egal was passierte, sie würde hindurchgehen. Sie wusste wirklich nicht, was auf sie zukam und wem sie da entgegen schritt. Ein schwarzer Engel, der ihre tiefsten Tiefen ergründen würde, von denen sie selbst noch nichts wusste.

Sie war gespannt – da war der Klingelknopf.

Ein Summer ertönte, sie stieß die schwere Holztüre auf, ein dunkler Korridor lag vor ihr. Vierter Stock, ganz oben. Mit jedem Schritt, den sie die massive Wendeltreppe hinaufstieg, ließ sie etwas hinter sich, und begann etwas Neues. Es gab kein Zurück mehr, nur noch ein Vorwärts, weiter, weiter, wohin? Das konnte sie nur erahnen …